Covid-19 und AIDS

Sexuelle Gesundheit in der CoronakriseInterview mit Dr. med. Martin Viehweger  Coronakrise bedeutet seit Wochen Deprivation ungekannten Ausmaßes – Verzicht auf vieles, was uns lieb und teuer ist, über lange Zeit. Für alle, die gern Zeit mit Familie und Freunden verbringen, große Events und Partys lieben, sind die Entbehrungen besonders groß. Was bedeuten die Maßnahmen gegen das Coronavirus für die queere Community? Verstoßen die Einschränkungen wegen einer Gefahr für die Bevölkerungsgesundheit gegen unsere Grundauffassung von Freiheit und Demokratie? connexi sprach darüber mit Dr. med. Martin Viehweger. Er ist teilzeitig ärztlich tätig in der Community in Berlin und Oberarzt am Checkpoint Zürich, einem Verbund aus einem großen suchtmedizinischen Institut, medizinischer Versorgung und AIDS-Hilfe in der Schweiz. In kaum einem anderen Bereich des Lebens herrscht auch im 21. Jahrhundert, bei aller Aufgeklärtheit und Offenheit in der Gesellschaft so viel Unsicherheit, Scham, Angst und Peinlichkeit wie bei der Sexualität. Aber nicht nur bei HIV-positiven Menschen sind sexuelle Gesundheit und sexuell übertragbare Infektionen von hoher Relevanz, müssen thematisiert und offener kommuniziert werden. In HIV-Schwerpunktpraxen gehören diese Themen bereits zum Alltag bei der Beratung, Behandlung und Betreuung der Patient*innen. Dr. Viehweger engagiert sich seit langem für eine angst- und schamfreie Kommunikation rund um das Thema Sex. Er ist eng vernetzt und in der Vor-Ort-Arbeit nah an der Community, vertraut mit Problemen, die deren Mitgliedern unter den Nägeln brennen. Im Interview kommentiert er die besonderen Herausforderungen in der Zeit einer zusätzlichen Pandemie, wie sie mit dem SARS-CoV-2-Virus in den vergangenen Monaten das gesamte öffentliche und private Leben beeinflusst hat.Herr Dr. Viehweger, Sie sind Infektiologe, Aktivist für sexuelle Gesundheit und Health Care Professional für Veranstaltungen der Community sowie auf niedrigschwelligen szenenahen Plattformen. Welche Auswirkungen hatte die Coronapandemie für die Community? Es ist unter den aktuellen Umständen extrem schwierig, Community-Arbeit und unsere Projekte für sexuelle Gesundheit voranzutreiben. Wir können nicht vor Ort arbeiten, aufklären und testen­, wir können keine „Offenen Mikrofone“, keine Chem­sex‑Infotalk-Veranstaltungen anbieten, nicht einladen und die Leute da abholen, wo sie mit all ihren Fragen und Problemen sind. Wir müssen also schauen, wo finden wir jetzt die Gruppen, mit denen wir normalerweise reden − Transmenschen, Sexarbeiter*innen, Homosexuelle, queere Menschen aus den unterschiedlichsten Community-Bereichen.  Wir beobachten, die ganze Welt verschiebt sich gerade von analog zu digital. Und: Auch die Community, das ist ein durchaus positives Outcome der Krise, hat sich selbst sehr schnell neu organisiert in der digitalen Welt. Das Problem ist, alle machen jetzt irgendwo irgendwie ein bisschen was – z. B. rund um die Uhr Online-Dragshows im Livestream mit kleinen selbst gedrehten Videos, bei denen man miteinander sprechen und interagieren kann. Die Dragqueens kommunizieren nur auf einer virtuellen Bühne. Aber es gibt keine größeren Veranstaltungen mehr, auf denen wir die Community gemeinsam erreichen. Wir mussten uns also in die virtuellen Kanäle einklinken. Auch unser Projekt, das „Offene Mikrofon“ und unsere sozialen Projekte schieben wir jetzt mehr ins Digitale. Ich versuche, mein Offenes Mikro­fon alle zwei Wochen online zu platzieren und werte das Echo aus.  Haben sich die Themen im Vergleich zu den Liveveranstaltungen verändert?Ja, das ist sehr auffällig. Es wird jetzt sehr viel mehr über Einsamkeit gesprochen, über Depression und Deprivation. Plötzlich geht es auch häufiger um Gesundheit und persönliches Wohlbefinden. Und man stellt fest, dass sich die Gesellschaft im Umgang mit Corona gerade aufsplittet. Die einen sagen, wir halten jetzt alle zusammen, halten irgendwie durch, verteilen Spendengelder und versuchen kreativ zu sein. Und es gibt jene, die von ihrem Fenster aus Fotos machen, wenn Menschen sich draußen in kleinen Gruppen versammeln. Die werden gepostet, sie fangen dann an mit Shaming und verlangen, diese Menschen müssten getrackt und eingesperrt werden. Das ist eine Gefahr von digitalen Möglichkeiten. Dabei offenbart sich auch, und das ist teilweise schon bedenklich, wie unsere Gesellschaft insgesamt mit der aktuellen Situation umgeht. Steht man dem Shutdown kritisch gegenüber, meint z. B., dass es für einige Menschen o. k. ist auf die Straße zu gehen, weil dahinter vielleicht Notwendigkeiten stehen, bekommt man sehr viel Gegenwind. Ich denke, man sollte, statt vorschnell zu ächten, wie es oft geschieht, die Maßnahmen und das ganze Prozedere, Tracking Apps etc. auch kritisch hinterfragen dürfen. Wie wichtig ist uns unsere Freiheit? Wäre es nicht sinnvoller, mit einem anderen Narrativ den Menschen mehr Eigenverantwortung zu geben mit der Situation umzugehen, anstatt schon vorab zu sagen, das schaffen sie ohnehin nicht und deswegen sollten wir besser alle zu Hause „einsperren“? Solche Diskussionen mit quasi einer konträren Meinung zum aktuellen Shutdown sind allerdings sehr schwierig online zu führen.  Ich hoffe, dass wir nach Corona nicht weitermachen wie vorher, sondern dass wir uns für notwendige Verbesserungen im Gesundheitssystem einsetzen.  Sehen Sie Freiheit und Demokratie, wie wir sie hierzulande genießen, jetzt in Gefahr?Es wäre wichtig, dass wir diese Diskussion um Freiheit vs. Deprivation, deren Maß und die Modalitäten unbedingt im Nachgang führen. Hätte man von Anfang an andere Strategien gefahren, dann wäre es möglich gewesen, vielleicht auch ganz andere Quarantäneoptionen in Betracht zu ziehen. Ich wünsche mir, dass alles, was wir jetzt hier veranstalten, danach kritisch angeschaut wird. Dass wir erkennen, was uns wichtig ist, uns dafür einsetzen und dafür kämpfen. Wie ist das Feedback? Hilft die digitale Kommunikation der Community?Auf jeden Fall. Die User werden aus der sozialen Vereinsamung herausgeholt. Sie konsumieren ja nicht nur, sondern im besten Fall produzieren sie auch. Oder sie stehen zumindest im Dialog und im Austausch. Schwierig wird es, wenn jemand eher aus dem Negativen schöpft und andere basht. Andererseits, auch das ist zu beobachten, versucht man in der Community dem Shaming und Bashing zu widersprechen: „So sollten wir eigentlich nicht miteinander umgehen und übereinander reden.“ Wie hat sich für Sie der allgemeine Praxisbetrieb verändert?Die Betreuung der Patient*innen ist sehr viel komplizierter, wenn man kaum persönlichen Kontakt haben darf. Auch, weil es nicht nur um reine Therapiemaßnahmen und die Verordnung von Medikamenten geht. Die Patient*innen haben z. T. Angst und sind sehr verunsichert durch Nachrichten, die oft nicht eingeordnet und zu wenig erklärend interpretiert werden. Beispielsweise bei den sehr unterschiedliche Testkriterien in unterschiedlichen Ländern fragen sich Betroffene natürlich, soll ich mich testen lassen, ist es sinnvoll oder nicht, wann sollte getestet werden, wer testet? Wann gehöre ich zu einer Risikogruppe? Wer entscheidet das? Wann habe ich ein Risiko? Das ist alles nicht so ganz klar und für derartige Aufklärung brauchen die Patient*innen Informationsformate, die es jetzt gerade zu wenig gibt.  Wie begegnen Sie persönlich diesem Problem?Ich versuche individuell aufzuklären. Das heißt, wenn Menschen mit immunkompromittierenden Erkrankungen wie HIV kommen, dann schaue ich das Blutbild an und erkläre, dass die Medikamente nicht immunsupprimierend sind, sondern im Gegenteil, stabilisierend. Ich spreche über die CD4-Zahlen, über bisher getroffene Vorsorgemaßnahmen, wie z. B. Impfungen. Ich kontrolliere, wie sieht das Immunsystem aus. Ist es geschwächt, hat der/die Betreffende also eine niedrige CD4-Zellzahl oder hatte schon einmal opportunistische Infektionen, dann zählt die Person schon eher dazu. Ebenso, wenn sich jemand frisch infiziert hat. Wenn es über lange Zeit jedoch nie Probleme, keine anderen Vor- oder chronische Erkrankungen gab, zählt HIV allein nicht als Risiko. Ich versuche dann, den Patient*innen Werkzeuge an die Hand zu geben, um sich stabil und gesund zu fühlen. Ich beruhige, indem ich erkläre, wer regelmäßig zu den Kontrollen da war und wirksam behandelt wird, wenn das Blutbild immer in Ordnung war, muss man sich keine Sorgen machen, das bestärkt die Menschen.Wie ist im Moment die (Akut- und Me­di­ka­men­ten-) Versorgung/Testung/Beratung in den HIV-Schwerpunktpraxen geregelt?Das machen wir jetzt vorrangig online. Oder wir besprechen in einem Anamnesegespräch am Telefon, wie der aktuelle Zustand ist, ob es Bedürfnisse gibt, die dazu führen würden, dass man die Person in der Praxis sehen müsste. Die meisten HIV-Patient*innen sind ja immunologisch stabil. Hier können wir die Routinevorsorgeuntersuchung um vier, fünf Wochen nach hinten verschieben und ein Rezept an die entsprechende gewünschte Schwerpunktapotheke oder die Patient*innen direkt schicken. Hat allerdings jemand Beschwerden, Probleme, Symptome, Ausfluss, etwas, was nach STD aussieht oder wenn der/die Betreffende von einem (Sexual-)Partner informiert wurde, dass dieser positiv getestet wurde auf irgendetwas, dann bestellen wir die Patient*innen immer noch ein, machen auch die Untersuchungen und bieten die Partnertherapie an. Wir wechseln natürlich jetzt jeden Tag unsere Oberteile, die gesondert gewaschen werden. Und wir tragen im direkten Patientenkontakt Masken. Auch wenn es kein 100 %iger Schutz ist. Bei Abstrichen, die im Rachen stattfinden, tragen wir zusätzlich Schutzbrillen. Auch eine PrEP-Beratung kann man online bzw. am Telefon durchführen, obwohl das sehr aufwändig ist, weil die persönliche Interaktion fehlt. Problematisch ist eine Blutabnahme. Man sollte gut eruieren, ob es im Umfeld der Person andere gibt, die zu einer Risikogruppe gehören, ehe man sie einbestellt oder solche Maßnahmen auch erst einmal verschieben. Hat durch die Einschränkungen im Praxisbetrieb die telemedizinische Behandlung einen Schub erfahren?Einen Schub erfahren telemedizi­ni­sche Konsultationen auf jeden Fall. Aber es ist be­sonders in Deutschland nicht ganz einfach wegen des Datenschutzes. Wenn man jedoch z. B. feststellt, die Person braucht dringend ein Gesicht gegenüber, jemanden, der sich eine Wunde oder die Haut anschaut, aber der/diejenige sollte nicht in die Praxis kommen, dann versucht man natürlich auch visuellen Kontakt über Bildschirm. Wir können das einrichten, selbstverständlich unter Einhaltung des Datenschutzes.Wir brauchen noch geeignetere Modelle und Applikationen, mit größerer rechtlicher Sicherheit. Das wird auch in Deutschland auf jeden Fall kommen. Zurzeit bin ich jedoch in der Regel noch „Madam Secretary“. Ich sitze den ganzen Tag nur am Telefon, fast alle Konsultationen laufen telefonisch, im 10- bis 15-Minuten-Takt. Wie gehen die Schweizer mit der „Corona­situa­tion“ um?Die meisten hier nehmen das alles sehr ernst. Das soziale Leben wurde massiv zurückgefahren. Es ist alles geschlossen. Und die Schweizer sind megadiszipliniert. Grundsätzlich wünschte ich mir, sie wären offener und respektvoller und das Narrativ wäre weniger auf Angst und Panik ausgerichtet. Hier schauen die Menschen schon argwöhnisch, wenn man zu zweit oder zu dritt auf der Straße unterwegs ist, und es werden schneller Vorwürfe gemacht. Das macht mir Sorgen.Was das Empfinden, die Ängste, Fragen und Sorgen der Patient*innen betrifft, deckt sich alles sehr mit dem, wie es in Deutschland ist. Und wir versuchen auch vom Checkpoint aus alles online zu machen. In der Schweiz darf man ja sogar Medikamente direkt nach Hause verschicken, so müssen die Leute nicht einmal in die Apotheke gehen. Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus der Bewältigung dieses Ausnahmezustandes mit in die Zukunft?Ich nehme mit, wie sehr Angst und Panik die Denkprozesse und die Produktivität lähmen können; welch großen Einfluss ein Narrativ darauf hat, wie wir miteinander sprechen und miteinander umgehen.  Für mich wäre jetzt wichtig, dass wir Angst und Panik nicht die Überhand gewinnen lassen, sonst verbauen wir uns unsere Kreativität, die Möglichkeit Ideen umzusetzen, wie man mit den Mitteln, die wir haben, irgendwie optimal arbeiten kann. Was jetzt zählt sind Fürsorge und Umsicht und dass man nicht mit dem Finger auf andere zeigt. Alles, was wir jetzt machen, was wir jetzt erleben, auch die negativen Erfahrungen, ist ja letzten Endes hilfreich im Sinne einer Lernkurve. Ich hoffe, dass wir nach Corona nicht weitermachen wie vorher, sondern dass wir uns für notwendige Verbesserungen einsetzen. Hätten wir in Deutschland zu Anfang schon ein stärkeres medizinisches System gehabt, und wäre da nicht so extrem gespart worden, dann hätten wir vermutlich gar keine Engpässe, z. B. bei Schutzmaterial und Beatmungsbetten, befürchten müssen. Wir sollten uns auch anschauen, in welchen Ländern hat das Ganze noch stärker zu Buche geschlagen, nicht nur bzgl. der Mortalität, sondern auch in Bezug auf die Virulenz, wie viele sind genesen usw. So dass man aus den Unterschieden in den verschiedenen medizinischen Strukturen und sonstigen Kulturen lernen kann und versteht, warum hat es einige Länder stärker getroffen als andere. Herr Dr. Viehweger, vielen Dank für das Gespräch.  Die Fragen stellte Elke Klug. Bild Copyright: mauritius images / Science Source / James Cavallini, Science Photo Library / James Cavallini  Im Gespräch mit:           Dr. med. Martin Viehwegermail@martinviehweger.com               aus connexi  3-2020 INFEKTIOLOGIEAIDS und Hepatitis, Covid-19      Titelbild Copyright: Science Photo Library / James Cavallini, mauritius images / BSIP / James Cavallini, Shutterstock / iconriver Gestaltung: Jens Vogelsang  
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