Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein

Kommunikations- und Informationsprobleme mit Schmerzpatienten nachvollziehenvon Hans-Günter Nobis, Bielefeld  Eine Untersuchung zur Gesundheitskompetenz kommt zu dem Ergebnis: „Einen Großteil der deutschen Bevölkerung – konkret 54,3 % – stellt der Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor Schwierigkeiten“ [1]. Der Wunsch nach verständlicher Information wird von über 90 % aller befragten Patienten als „sehr wichtig“ eingestuft. Allerdings entsprechen weniger als 30 % der Ärzte diesem Wunsch [2]. Im Patientenrechtegesetz wird der Behandler verpflichtet, seinen Patienten in einem Gespräch verständlich und umfassend zu informieren [3]. Vor diesem Hintergrund, dass der Hausarzt mit 84 % als erste Informationsquelle gilt [1], aber die Konsultationszeiten in der niedergelassenen Praxis bei unter 10 Minuten liegen, werden Informationsvermittlung und Nachvollziehbarkeit schnell zu einem Glücksspiel [4]. Wenn dann noch psychosoziale Zusammenhänge von Schmerz erklärt werden müssen, kommt es schnell zu Kommunikationsproblemen [5].  Die Wirksamkeit von Information konnte in Studien belegt werden [6–8]. Interessant sind Ansätze, die gezielte Informationen zur Verhinderung einer Chronifizierung in einem frühen Stadium der Krankheitsentwicklung einsetzen [9, 10]. Belegt wurde auch, dass präoperative Informationen den postoperativen Schmerzverlauf günstig beeinflussen [11]. Konsequenterweise werden in vielen Leitlinien eine adäquate, individuelle Information und Beratung ausdrücklich empfohlen [12].  Krankheitsvorstellungen Trotz zunehmender Medienpräsens von Gesundheitsthemen haben Patienten mit chronischen Schmerzen immer noch ein erhebliches Informationsdefizit. So hält die Mehrheit „Schonung“ für die beste Behandlungsstrategie bei Rückenschmerzen [13]. Häufig haben Patienten mit Rückenschmerzen eher dysfunktionale Verarbeitungsstile, ein passives Bewältigungsverhalten und ein biologisch ausgerichtetes Krankheitsmodell [14]. Die typischen „Krankheitsvorstellungen“ und Erwartungen an den Behandler (Infobox 1) von Patienten sollten zu Beginn erfragt werden [5].  INFOBOX 1: Krankheitsvorstellungen von SchmerzpatientenSchmerz ist nur ein lokales Geschehen.Schmerz weist immer auf einen körperlichen Defekt.Skepsis bis Ablehnung gegenüber psychosozialen MitwirkungsfaktorenIch kann selbst nichts machen.Der Arzt ist der Experte.in Erwartung gründlichster medizinischer Diagnostikin Erwartung ausschließlich medizinischer Behandlung  Inhalte einer Informationsvermittlung sollten daher sein [15–19]: Aufklärung über Diagnose und Behandlungsprinzipien, Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, Nutzen von Schmerztagebüchern, Informationen zur Wirkungsweise und zum selbstkritischen Umgang mit Medikamenten.Eine besondere Herausforderung ist, Informationen über biopsychosoziale Zusammenhänge so zu vermitteln, dass der Patient sie auch „richtig“ verstehen und auf seine eigene Situation übertragen kann. Sonst führen seine „Vorurteile“ (Infobox 1) schnell zu Kommunikationsproblemen („Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein“) [19–21]. Erst durch die Vermittlung eines biopsychosozialen Schmerzmodells kann sich der Patienten der ganzheitlichen Sicht des Phänomens „Schmerz“ öffnen.            Abbildung 1: Teufelskreis Überforderung und chronischer Schmerz. Grundbotschaften Die Gefahr eines ausschließlich somatisch orientierten Krankheitsverständnis bei Patient und Arzt liegt in einer überbetonten Suche nach Organabweichungen, der Ausblendung psychosozialer Risikofaktoren und der ausschließlichen Fixierung auf das Ziel Schmerzfreiheit [14]. Ein späterer Wechsel des Diagnose- und Behandlungskonzepts ist für den Patienten dann nicht nachvollziehbar und kränkend. Neben Information verbessert auch gute Kommunikation (Compliance) Behandlungsergebnisse [22]. Deshalb sollten schon in der frühen Phase der Zusammenarbeit entlastende Grundbotschaften vermittelt werden. Eine der zentralsten Botschaften an den Patienten ist der Satz: „Jeder Schmerz ist echt.“  Weitere Botschaften, die sich bei Schmerzkranken in beruflichen und sozialmedizinischen Problemlagen bewährt haben, sind in Infobox 2 zusammengestellt [23].  INFOBOX 2: Entlastende „Grundbotschaften” „Die Größe des Leids richtet sich beim akuten Schmerz oft nach seiner Stärke, beim chronischen Schmerz oft nach seiner Dauer.“„Schmerzen können auch ohne körperliche Schädigungen sehr heftig sein.“„Die in einem therapeutischen Rahmen zugelassene körperliche Aktivität ist nicht automatisch gleichzusetzen mit beruflicher Leistungsfähigkeit.“„Krankschreibung und Berentung sind sozialmedizinisch legitime Lösungen, aber vielleicht nicht die einzigen.“  Die Investition in eine gute Gesprächsführung lohnt nicht nur für den Schmerzpatienten. So zeigt eine Studie [24], dass für Ärzte mit einer hohen Gesprächskompetenz: die subjektive Belastung durch die Krankheit ihrer Patienten geringer ist,die Stressbelastung durch den Beruf als niedriger empfunden wird,die berufliche Zufriedenheit wächst unddie Neigung zu Depressionen, Ängsten und Suizidalität (bei Ärzten überdurchschnittlich hoch) abnimmt.Schriftliches Material kann den Informationsauftrag des Arztes unterstützen [25–27]. Eine nicht unerhebliche Zahl von Veröffentlichungen ist allerdings hinsichtlich ihres Informationsgehaltes kritisch zu bewerten [28]. Über 20 % der chronisch Schmerzkranken nutzen inzwischen das Internet als Informationsquelle [1, 29]. Laiengerechte, neutrale und auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand aufgearbeitete Informationen zu Schmerz sind im Internet die Ausnahme. Hier hat die von der Deutschen Schmerzgesellschaft unterhaltene „Patienteninformation“ eine Vorbildfunktion (www.dgss.org/Patienteninformationen).   Fazit Schmerzpatienten wünschen sich von ihrem Arzt neben menschlicher Anteilnahme auch klare, nachvollziehbare Informationen. Diese sind eine wichtige Ressource im Behandlungsprozess, denn erst sie öffnen dem Patienten die ganzheitliche Sicht des Phänomens „Schmerz“ und fördern damit die Nutzung aller ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Selbsthilfe, darüber hinaus reduzieren sie Missverständnisse, falsche Erwartungen und vorzeitige Therapieabbrüche.  Dabei steht und fällt der therapeutische Erfolg unseres Tuns mit der Aufgabe, dem Patienten zu vermitteln, dass sich ein mündiger Patient nicht nur dadurch auszeichnet, dass er gelernt hat seine Rechte im Medizinsystem einzufordern, sondern auch die Bereitschaft zeigt, den aktiven Part im Gesundwerden zu übernehmen.     ReferenzenSchaeffer D et al. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland: Ergebnisbericht, Bielefeld: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften. 2016. Verfügbar unter http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag6/downloads/Ergebnisbericht_HLS-GER.pdf [Letzter Zugriff 8. Juli 2019].Dierks M L et al. Patientensouveränität – Der autonome Patient im Mittelpunkt. Arbeitsbericht Nr. 195 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg. Stuttgart, 2001.Bundesministerium für Gesundheit. Patientenrechtegesetz. Verfügbar unter http://www.bmg.bund.de./glossarbegriffe/p-q/patientenrechtegesetz.html. [Letzter Zugriff 23. November 2015].Deveugele M, Derese A, van den Brink-Muinen A et al. Consultation length in general practice: cross sectional study in six European countries. BMJ 2002; 325(7362): 472.Glier B. Chronischen Schmerz bewältigen, Leben lernen 153, Klett-Cotta, 2002.Engers A, Jellema P, Wensing M et al. Individual patient education for low back pain. Cochrane Database Syst Rev 2008; (1): CD004057.Moseley GL, Nicholas MK, Hodges PW. A randomized controlled trial of intensive neurophysiology education in chronic low back pain. Clin J Pain 2004; 20(5): 324–30.Moseley GL. Evidence for a direct relationship between cognitive and physical change during an education intervention in people with chronic low back pain. Eur J Pain 2004; 8(1): 39–45.Schmidt CO, Chenot JF, Pfingsten M et al. Assessing a risk tailored intervention to prevent disabling low back pain – protocol of a cluster randomized controlled trial. BMC Musculoskelet Disord 2010; 11: 5.Bennett MI, Bagnall AM, José Closs S. How effective are patient-based educational interventions in the management of cancer pain? Systematic review and meta-analysis. Pain 2009; 143(3): 192–9.Gräwe JS, Mirow L, Bouchard R et al. Einfluss präoperativer Patienteninformationen auf postoperative Schmerzen unter Berücksichtigung individueller Stressverarbeitung. Schmerz 2010; 24: 575–86.AWMF (2010) Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz. Verfügbar unter http://www.kreuzschmerz.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007I_S3_Kreuzschmerz_2013-08.pdf. [Letzter Zugriff 24. Juli 2015].Gross DP, Ferrari R, Russell AS et al. A population-based survey of back pain beliefs in Canada. Spine (Phila Pa 1976) 2006; 31(18): 2142–5.Briggs AM, Jordan JE, Buchbinder R et al. Health literacy and beliefs among a community cohort with and without chronic low back pain. Pain 2010; 150(2): 275–83.Basler HD, Kröner-Herwig B. Psychologische Schmerztherapie bei Kopf- und Rückenschmerzen. Ein Schmerzbewältigungsprogramm zur Gruppen- und Einzeltherapie. 2. Aufl., Quintessenz, München, 1998.Basler HD, Beisenherz-Hahn B. Chronische Kopf- und Rückenschmerzen. Psychologisches Trainingsprogramm – Trainerhandbuch. V&R-Verlag, Göttingen, 2001.Egle UT, Zentgraf B. Mechanismenbezogene statt schulenspezifische psychosomatische Schmerztherapie. Psychiatrie & Neurologie 2009; 3: 18–23.Flor H. Verhaltenstherapie bei chronischen Schmerzen. PiD 2005; 1 (6): 11–8.Hildebrandt J, Pfingsten M, Franz C, Saur P, Seeger D. Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) – Das Manual. congress compact verlag, Berlin, 2003. Goedhuys J, Rethans JJ. On the relationship between the efficiency and the quality of the consultation. A validity study. Fam Pract 2001; 18(6): 592–6.Nobis HG. „Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein“ – Woran Edukationskonzepte scheitern können. In: Arbeitskreis Klinische Psychologie in der Rehabilitation BDP (Hrsg.) (Selbst-)Konzepte bei veränderten Lebensbedingungen. Dpv 2013: 19–37.Dibbelt S et al. Patient-Arzt-Interaktion in der Rehabilitation: Gibt es einen Zusammenhang zwischen wahrgenommener Interaktionsqualität und langfristigen Behandlungsergebnissen? Rehabilitation 2010; 49 (5): 315–25.Nobis HG, Pielsticker A. Information und Edukation des Patienten. In: Casser HR, Hasenbring M, Becker A, Baron R (Hrsg.): Rückenschmerzen und Nackenschmerzen. Springer, 2016.Maguire P, Pitceathly C. Key communication skills and how to acquire them. BMJ 2002; 325: 697–700.Burton AK, Waddell G, Tillotson KM, Summerton N. Information and advice to patients with back pain can have a positive effect. A randomized controlled trial of a novel educational booklet in primary care. Spine (Phila Pa 1976) 1999; 24(23): 2484–91.Sawamura K, Ito H, Koyama A et al. The effect of an educational leaflet on depressive patients‘ attitudes toward treatment. Psychiatry Res 2010; 177(1–2): 184–7.Nobis HG, Rolke R, Graf-Baumann T (Hrsg.) Schmerz – eine Herausforderung. Informationen für Betroffene und Angehörige. SpringerMedizin, 2016.Butzlaff M et al. Informationsmaterial und -medien zur Prävention von Rückenschmerzen, Abschlussbericht der Bertelsmann-Stiftung. Verfügbar unter www.bertelsmann-stiftung.de. 2003Corcoran TB, Haigh F, Seabrook A, Schug SA. A survey of patients‘ use of the internet for chronic pain-related information. Pain Med 2010; 11(4): 512–7.  Bild Copyright:  Shutterstock / iJeab   Autor:           Dipl.-Psych. Hans-Günter Nobisgnobis@gmx.de                 aus connexi  8-2019SCHMERZPALLIATIVMEDIZINKongressberichte       Titelbild Copyright: mauritius images / Science Photo Library / Kateryna Kon Gestaltung: Jens Vogelsang  
Neueste Artikel

 

Kontaktieren Sie uns

 

 

 

Folgen Sie uns