Kluge Entscheidungen treffen

Individualisierung statt Standardisierung „Es gibt keine richtigen Entscheidungen in der Therapie chronischer Schmerzen, sondern nur kluge“, stellt die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) in ihrem Thesenpapier fest. Kluge Entscheidungen, im Sinne der DGS, entstehen aus kontextangepassten Entscheidungsprozessen, welche die Patienten-Ressourcen berücksichtigen. Sie werden vom Patienten und seinen Angehörigen verstanden und im Behandlungsverlauf adaptiert. Das Ziel ist die Patientenzufriedenheit, nicht zwingend die vollständige Schmerzfreiheit [1]. In Deutschland leiden mehr als 3,4 Millionen Patienten an schweren und hochproblematischen chronischen Schmerzen. Chronische Schmerzen müssen aufgrund vieler Einflussfaktoren als nicht standardisierbar eingestuft werden, so die DGS. Zu diesen Einflussfaktoren zählen unter anderem Autonomie der Lebenspraxis des Patienten in seiner Familie, biografische Vulnerabilität, Beziehungsgeflecht und Ressourcen, Enttäuschungen in der Vorbehandlung, subjektive Betroffenheit, sozial­rechtliche Vorgaben und viele andere mehr [1].  Religion und Palliation Bei Schmerz- und Palliativmedizin stehen Behandler im Spannungsfeld zwischen Gesetzen, Menschenwürde, medizinischen Möglichkeiten, Selbstbestimmung und ethischen Aspekten. Welche Rolle möglicherweise auch der religiöse Hintergrund spielt, beleuchten Dr. med. Stephan M. Probst, Internist und Palliativmediziner aus Bielefeld in seinem Beitrag „Palliative Care und praktiziertes Judentum – ein Widerspruch?“ (Seite 28) und Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in seinem Beitrag „Palliativmedizin und Begleitung von Patienten mit muslimischem Hintergrund“ (Seite 24). Therapieoptionen am Lebensende In der Öffentlichkeit werden die Themen Sterbebegleitung und Sterbehilfe, also Beihilfe zur Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen, oftmals vermischt. Dabei seien die beiden Felder klar zu trennen. Wie Ärzte Hilfe leisten beim Sterben, aber nicht zum Sterben, machen Dr. med. Eberhard Albert Lux von der Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin Lünen und Dr. med. Uwe Junker in ihrem Beitrag „Therapieoptionen am Lebensende“ (Seite 55) deutlich. Um dem Patienten das Sterben zu erleichtern, liegt das Hauptaugenmerk unter anderem auch auf einer adäquaten Schmerztherapie, dazu eventuell eine vorübergehende Sedierung, um Unruhe und Verwirrtheit zu lindern – was letztlich auch die Symptomlast bei Angehörigen und Pflegekräften mindere, so Lux. Cannabinoide in den Versorgungsalltag bringen In der schmerz- und palliativmedizinischen Versorgung schwerkranker Patienten nehmen Cannabinoide einen zunehmend wichtigen Platz ein. Doch zwei Jahre nach Einführung des Cannabis-Gesetzes besteht noch häufig Verunsicherung bei der praktischen Anwendung der verschiedenen Cannabinoid-Wirkstoffe. Die teils noch nicht zufriedenstellende Studienevidenz ist einer der Gründe dafür. Wie ein Einstieg in die Schmerztherapie mit medizinischem Cannabis gelingen kann, beschreibt der Beitrag auf Seite 58. Orientierung bietet ebenfalls die neue DGS-Praxisleitlinie zu „Cannabis in der Schmerztherapie“ [2], die auch die für einige Wirkstoffe bereits umfassend vorhandene Erfahrungsevidenz berücksichtigt und eine praxisbezogene Hilfestellung bei der Versorgung und Betreuung schwerkranker Patienten bietet. Die DGS-Praxisleitlinie steht als patientenorientierte „Best-Practice-Leitlinie“ im Kontrast zu den herkömmlichen, evidenzbasierten Leitlinien. Den großen Vorteil der Cannabinoide sehen viele Experten in ihrem breiten Einsatzspektrum in Schmerz- und Palliativmedizin. Hierbei gehe es nicht nur um einen Ersatz oder Austausch der medikamentösen Therapie, sondern viel mehr um eine Erweiterung und zusätzliche Gabe von Cannabinoiden bei einem Versagen der Standardtherapie. Bewegung kommt inzwischen auch seitens der WHO ins Spiel: „Sie empfiehlt eine Neuklassifizierung von Cannabis-Produkten“, erklärte DGS-Präsident Dr. med. Johannes Horlemann anlässlich des 30. Schmerz- und Palliativtages in Frankfurt. So sollen THC-haltige Cannabis-Produkte (Cannabisblüten [Marihuana], Cannabisharz [Haschisch], Extrakte/Tinkturen etc., Dronabinol [THC]) nicht mehr als „besonders gefährliche Suchtstoffe“ gelten und THC-arme Cannabis-Produkte (≤0,2 % THC) gänzlich von der internationalen Suchtstoff-Kontrolle ausgenommen werden (u. a. reines CBD und CBD-Zubereitungen); auch werde der therapeutische Nutzen von Dronabinol prinzipiell anerkannt. Ein nächster wichtiger Schritt sei die Abstimmung der Suchtstoffkommission der Vereinten Nationen über diese WHO-Empfehlung (voraussichtlich März 2020). Bis Cannabinoide im Versorgungsalltag selbstverständlich sind, kann es noch Monate oder auch Jahre dauern, Maßnahmen auf EU-Ebene sowie der WHO könnten aber helfen, dies zu forcieren: „Erfreulicherweise fordert das EU-Parlament eine Vereinheitlichung der Nutzung medizinischer Cannabis-Wirkstoffe, eine gezielte Förderung der medizinischen Cannabis-Forschung und eine breite Verfügbarkeit klinisch gut untersuchter Cannabis-Wirkstoffe für Ärzte und Patienten“, so Horlemann.   Redaktion: Rüdiger Zart  Quelle: Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.  ReferenzenThesenpapier der Deutschen Gesellschaft für Schmerz­medizin e. V. Schmerzmedizin 2019; 35 (2).https://www.dgs-praxisleitlinien.de      Bild Copyright:  mauritius images / Science Photo Library / Kateryna Kon             aus connexi  8-2019 SCHMERZ- UND PALLIATIVMEDIZINDeutscher Schmerz- und Palliativtag 2019 in Frankfurt am MainKongressbericht       Titelbild Copyright: mauritius images / Science Photo Library / Kateryna Kon Gestaltung: Jens Vogelsang  
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