Suchterkrankungen

Neue Entwicklungen von Markus Backmund, München   In den letzten Jahrzehnten wurden entscheidende Entwicklungen in der Suchtmedizin jeweils wegen der durch neue Infektionskrankheiten hervorgerufenen Angst ermöglicht. Die aktuelle Coronapandemie verdeutlicht jedoch einmal mehr, dass es immer noch erhebliche Defizite gibt. Im Umgang mit Suchtkranken als besonders gefährdete Patientengruppe bedarf es eines neuen Bewusstseins. Obwohl es im Umgang mit Suchterkrankungen nach mühevollen Kämpfen Fortschritte gegeben hat, sind Drogen-, Alkohol- oder Medikamentensucht nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema. Betroffene werden häufig diskriminiert, erforderliche Therapien werden ihnen zum Teil vorenthalten, ihre Erkrankung nicht als solche wahrgenommen und zu oft ignoriert. Diese Phänomene lassen sich seit Bekanntwerden des HI-Virus wie auch nach der Entdeckung des Hepatitis-C-Virus beobachten. Auch in der Coronapandemie zeigt sich, dass in den vergangenen Jahrzehnten anscheinend kaum etwas dazugelernt wurde.  HIV-Infektion  Die AIDS-Epidemie Ende der 1980er-Jahre machte vielen Politikern und der Bevölkerung Angst. Das Bundesgesundheitsministerium stellte im Bereich Drogenabhängigkeit, um den sich bis dahin niemand gekümmert hatte, zu Beginn der 1990er-Jahre Forschungs­gelder zur Verfügung, und so konnte die qualifizierte Entzugsbehandlung eine Lücke im Therapieangebot schließen.Bis Ende der 1980er-Jahre galt bei Opioidabhängigkeit allein die sofortige Abstinenzbehandlung im Rahmen einer Langzeittherapie über 18 Monate als Königsweg: Die Drogenabhängigen mussten den Kontakt zu einer Drogenberatungsstelle suchen, in der Lage sein, einen Lebenslauf zu verfassen und sich für einen Platz in der durch die Rentenversicherungsträger finanzierten Langzeittherapie bewerben. Zur körperlichen Entgiftungsbehandlung wurden sie nur aufgenommen, wenn sie einen Langzeittherapieplatz direkt im Anschluss vorweisen konnten. Spezielle Stationen, die Entgiftungsplätze bereitstellten, gab es kaum. Aus ideologischen Gründen wurde eine dauerhafte Substitutionsbehandlung abgelehnt. Mögliche Schmerzen während der Entgiftungsbehandlung wurden wohl im Sinne einer Aversionstherapie als willkommen angesehen.  Anfang der 1990er-Jahre wurde zur Linderung der Entzugssymptome eine Substitutionsbehandlung mit Levomethadon begonnen und homolog langsam herunter dosiert. Gleichzeitig konnte sozialtherapeutisch und psychotherapeutisch behandelt werden, die sogenannte qualifizierte Entzugsbehandlung war gefunden [1, 2]. Hepatitis-C-Infektion 1989 wurde das Hepatitis-C-Virus entdeckt, und bald wurde deutlich, dass Opioidabhängige die Hauptbetroffenen sind. Dennoch wurde Opioid­abhängigkeit 1997 in der Empfehlung zur Behandlung der Hepatitis C als Kontraindikation aufgeführt. Begründet wurde das damit, dass „Suchtkranke“ per se unzuverlässig seien. Diese Diskriminierung verhinderte die Behandlung einer schweren Erkrankung [3].  Durch wissenschaftliche Studien konnte belegt werden, dass vor allem während der Substitutionsbehandlung eine Hepatitis-C-Therapie sehr erfolgreich sein kann [4]. In der Folge durften Suchtkranke mit Hepatitis C adäquat behandelt werden. Die wissenschaftlich belegten Erkenntnisse, dass Substitutionspatienten ihre HIV- und Hepatitis-C-Medikamente sehr zuverlässig einnehmen können, trugen dazu bei, dass die Substitutionsbehandlung nach jahrzehntelangen Bemühungen als Therapie der ersten Wahl anerkannt worden ist [5, 6]. Coronavirusinfektion Ende 2019 brach die Pandemie mit dem neuen Virus SARS-CoV-2 aus. Das HI- und Hepatitis-­C-Virus haben gemein, dass sie über Blutkontakte übertragen werden und somit die intravenös Drogenabhängigen besonders gefährdet sind. Bei der SARS-CoV-2-Infektion sind alle Menschen ansteckungsgefährdet, da das Virus sich mittels Tröpfchen verbreitet.  Die natürlicherweise entstehende Angst vor neuen Infektionskrankheiten wurde und wird gezielt durch Politik und Medien ins schier unermessliche gesteigert. So ist alles durchsetzbar. Die Menschen befolgen die Bestimmungen, nicht weil sie sie nachvollziehen und verstehen, sondern aus Angst. Alternativen werden nicht diskutiert. Nicht berücksichtigt werden die psychischen, medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die durch die restriktiven Maßnahmen verursacht werden, katastrophal sind und auch tödlich sein können. Die medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen wirken sich wiederum auf die Psyche der Menschen aus und führen bei suchtkranken Patienten zu Rückfällen oder Dosis­steigerungen.  Für Alkoholkranke und viele andere Suchtkranke bedeutete das Verbot Selbsthilfegruppen zu besuchen die Wegnahme einer der wirksamsten Therapien, die ihnen eventuell über Jahre ein abstinentes Leben ermöglicht hat.  Die Ärzteschaft muss zur Kenntnis nehmen, dass sie aufgefordert wird, großzügig zu substituieren, wo sie vor der Coronakrise noch Strafanzeigen erhalten hat und, folgt man nur dem Gesetzestext, auch nach wie vor angezeigt werden können. Dennoch bleibt zumindest in Bayern genug Zeit für die Polizei, die stark verunsicherten Opioidabhängigen – die Szene ist praktisch weggebrochen – auf aus der Praxis geschmuggelte Substitutionsmittel zu untersuchen. Welche Verhältnismäßigkeit liegt dem zugrunde? Hoffentlich kehrt bald Vernunft ein, so dass auch diese aktuelle Infektionskrankheit eine positive Erneuerung für die Suchtkranken bringen kann. Davon ist bisher nichts zu sehen.     Referenzen:Backmund M, Eichenlaub D, Soyka M. Das Bundesmodellprojekt „Qualifizierte Entzugsbehandlung Drogenabhängiger“ an einem Krankenhaus der Maximalversorgung: Konzept, Inanspruchnahme und klinische Ergebnisse. Gesundheitswesen 1998;60:552−557.Backmund M, Meyer K, Eichenlaub D, Schütz CG. Predictors for completing an inpatient detoxification program among intravenous heroin users, methadone substituted and codeine substituted patients. Drug Alcohol Depend 2001a;64:173−180.Paterson BL, Backmund M, Hirsch G, Yim C. The depiction of stigmatization in research about hepatitis C. Int J Drug Policy 2007;18:364−373.Backmund M, Meyer, K, von Zielonka M, Eichenlaub D. Treatment of Hepatitis C Infection in Injection Drug Users. Hepatology 2001b;34:188−193.Backmund M, Hinrichsen H, Rossol S, Schütz Ch, Sokya M, Wedemeyer H, Reimer J. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin: Therapie der chronischen Hepatitis C bei intravenös Drogengebrauchern. Suchtmed 2006; 8: 129-133.Backmund M, Meyer K, Holzke D, Bernhard-Wehmeier W. Suchtverlauf nach Entlassung aus der qualifizierten Entzugsbehandlung am Klinikum Schwabing (2005-2007). Suchtmed 2008;10:215−221.  Bild Copyright: devenorr / Alamy Stock Foto  Autor:           Prof. Dr. med. Markus BackmundMarkus.Backmund@p-i-t.info              aus connexi  3-2020 INFEKTIOLOGIEAIDS und Hepatitis, Covid-19      Titelbild Copyright: Science Photo Library / James Cavallini, mauritius images / BSIP / James Cavallini, Shutterstock / iconriver Gestaltung: Jens Vogelsang  
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