TECHNOLOGIE VERÄNDERT DIE WELT - Medizin. Macht. Möglichkeiten.
Anja Lamprecht
NEUE DIGITALE WELT Einblicke in die Zukunftswerkstatt der „Künstlichen Intelligenz“ Teil 5 Auf den folgenden Seiten setzen wir unsere neue Beitragsserie zum Thema „Künstliche Intelligenz“ mit Fokus insbesondere auf medizinisch interdisziplinäre Bereiche fort. In ihrem fünften Beitrag beschäftigen sich Dr. med. Tobias Gantner, HealthCare Futurists GmbH Köln, und Dr.-Ing. Christian Kauth damit, wie die künstliche Intelligenz als weitere epochale technologische Revolution unser aller Wahrnehmung der Wirklichkeit in Zukunft verändern wird. In der nächsten connexiplus-Ausgabe stellen sie sich einer Herausforderung aus dem Leserkreis: Es wird um medikamentöse Therapie, die Sondierung des Zusatznutzens neuer Therapien durch den G-BA nach dem AMNOG und die Verarbeitung unstrukturierter medizinischer Dokumente gehen. Sie werden dazu eine KI aufbauen, im Beitrag die Funktionsweise erläutern und Ergebnisse interpretieren. Seien Sie gespannt.TECHNOLOGIE VERÄNDERT DIE WELT Medizin. Macht. Möglichkeiten. von Tobias D. Gantner, Köln und Christian Kauth, Fribourg, Schweiz Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) steht in einer historischen Verbindung mit dem Buchdruck, der Elektrifizierung und der Digitalisierung. Es wird Zeit, für eine Zusammenschau der Möglichkeiten, die ein sachgerechter und verantwortungsvoller Einsatz von künstlicher Intelligenz ermöglichen wird. Sie ist eine Technologie, die in ihrer Kulmination ähnliche Auswirkungen auf das Zusammenleben und die kulturelle wie wissenschaftliche Entwicklung der Menschen haben wird, wie die Entdeckung, Erforschung und Erschließung der Elektrizität. KI wird vor allem die Wege, Erkenntnisse zu gewinnen, und damit unser Bild von der Wirklichkeit verändern. Es steht ein epochaler Wandel bevor, und zwar in ähnlichem Maße wie bei der Einführung des Buchdrucks bzw. der mobilen Lettern durch Gutenberg. In ursprünglichem Konzept und Ausbaustufe erleuchtete das eine den Suchenden als Bibel und deren Übersetzung den Weg zum Seelenheil, das zweite als Laterne den Weg nach Hause. Beide Anwendungen waren der zunächst zeitgeistgemäße und naheliegende, „handwerkliche“ Einsatz der Technologie. Daraus entwickelte sich jedoch über die Zeit viel mehr: Der Buchdruck führte zu einem grundsätzlich erleichterten, weil günstigerem Zugang zu Wissensinhalten. Dadurch stieg die Nachfrage nach der Fähigkeit, lesen zu können und damit wurde Geschriebenes leichter verbreitet. Das erleichterte die Entwicklung und Verbreitung neuer gesellschaftlicher Strömungen. Wissen wurde durch Technologie schneller verbreitet, man könnte sagen, der Zugang wurde demokratisiert. Die Technologie bedingte und beschleunigte gesellschaftliche Veränderungen mit: Religionskriege der frühen Neuzeit aber auch die Renaissance und den Humanismus.Medizin: Ein Aggregat von Wissen, das zusammengeführt werden muss Es geht also bei der Bewertung nicht nur um die Auseinandersetzung mit der Technologie und deren Funktionsweise, gewissermaßen dem dahinter steckenden Handwerk, sondern um die Vorausschau auf die ihr innenwohnenden Veränderungspotenziale. Eine solchermaßen gestalte Auseinandersetzung mit Technologie und deren möglichen Folgen befähigt das Individuum aber auch, sich an den Veränderungsprozessen gestaltend mit zu beteiligen. Wie der Buchdruck sich durch die Digitalisierung des Offizin-Handwerks, beginnend in den 1970ern erneut komplett verändert hat, so lernen wir auch, dass die Elektrizität immer neue Ausprägungen zeigt und uns Erkenntniswelten erst zugänglich macht, da Technologien aufeinander aufbauen: Auch wenn der Einsatz scheinbar jeder Technologie in ihrer Entfaltung, vergleichbar mit Ästen an einem Baum, ähnliche Wege nimmt, haben wir hier gleichzeitig einen stetig wachsenden Stammbaum an Technologien, die aufeinander aufbauen: Ohne Buchdruck keine Elektrizität und ohne Elektrizität keine Digitalisierung, ohne Digitalisierung keine Datenwissenschaft und ohne Datenwissenschaft keine künstliche Intelligenz. Wie Buchdruck, Elektrizität und Digitalisierung zu ihrer Zeit alle gesellschaftlichen Strukturen und Wissensgebiete durchdrangen, so wird auch die künstliche Intelligenz das tun. Und das wird auch Auswirkungen auf die Medizin haben: Komplexe Erkrankungsgeschehen werden nicht mehr von ausschließlich medizinischen Fachleuten aufgedeckt werden, sondern von Teams, deren fester Bestandteil Datenwissenschaftler sein werden.Macht: Wollen wir das Machbare oder machen wir das Wünschenswerte? Damit wird man sich auch in der Medizin auseinandersetzen müssen: Der Weg von der evidenzbasierten Medizin hin zur emergenzbasierten, also zu einer von vielen Datenquellen gestützten Medizin, wird die Ausbildung neuer ärztlicher Spezialisierungen hervorbringen. Diese werden in der Lage sein die klassische Medizin und deren Vorgehen zu verstehen, aber auch die Möglichkeit haben, analytische Modelle aus Statistik und Datenwissenschaften zu verstehen, zu erstellen und anzuwenden.In modernen Datenlaboren werden wir immer mehr über computergenerierte Biomarker erfahren, die einen ähnlichen Stellenwert in der Diagnostik haben werden wie Daten, die aus Wetlabs kommen. Pandemien werden nicht mehr nur von Epidemiologen entschlüsselt werden, sondern Epidemiologen werden sich zu Datenwissenschaftlern entwickeln oder eng mit ihnen kooperieren. Die nächste Pandemie wird durch den klugen Einsatz von künstlicher Intelligenz erkannt und aufgehalten werden. Vaccine werden durch predictive Modelling bereits 100 Tage nach der Detektion des Outbreaks zur Verfügung stehen. Das bedeutet natürlich auch, dass z. B. in regulatorischen Prozessen ein Verständnis über Daten, Datenauswertung und künstliche Intelligenz vorhanden sein muss. Das sollte uns allen Grund genug sein, uns mit den neuen Möglichkeiten der datengetriebenen Medizin, unterstützt durch KI Algorithmen und Machine Learning, auseinanderzusetzen. In den vorhergehenden vier Teilen der Artikelserie haben wir die Grundlagen gelegt. Wir haben die Entwicklung historisch eingeordnet und deren Veränderungspotenzial auf die Art und Weise, wie wir Medizin betreiben, gezeigt.Möglichkeiten: Klinische Anwendung der künstlichen Intelligenz – Wünsche und Wirklichkeiten In der regen Korrespondenz mit Lesern dieses Journals sind wir auch noch auf weitere mögliche Betätigungsfelder der KI hingewiesen worden. Wir bedanken uns bei Frau Dr. Horn für ihre Korrespondenz und ihre klinischen Hinweise, die wir hier auszugsweise darstellen, ohne sie weiter zu kommentieren. Jedes für sich stellt ein eigenes Projekt dar, und es ist nicht auszuschließen, dass bereits in Universitäten und Unternehmen daran gearbeitet wird. Wir sind uns sicher, dass in den Erfahrungswelten der Leserschaft noch ungleich mehr Anwendungsgebiete der künstlichen Intelligenz vorstellbar sind.Auf dem Gebiet der Kardiologie Indikationsstellung zur Implantation kardialer Resynchronisations-Therapie-Systeme (CRT): KI-gesteuerte EKG-Analyse, um den Erfolg einer CRT-Implantation vorherzusagen. Die Anzahl der Therapieversager dieser kostspieligen und nebenwirkungsreichen Behandlung könnte vermindert werden (anhand der bisherigen Kriterien aus Klinik, EKG und Herzultraschall liegt der Anteil der sog. Non-Responder bei ca. 20−30 %).Implantierbare Kardioverter/Defibrillatoren (ICD): patientenindividuelle KI-gesteuerte Defini-tion der Therapiezonen zur ATP-/Schockabgabe anhand der gespeicherten intrakardialen Elektro-kardiogramme. Inadäquate, erwiesenermaßen lebenszeitverkürzende Schockabgaben könnten so reduziert werden.Auf dem Gebiet der Psychiatrie KI-unterstütztes Erkennen einer Krankheitsverschlechterung bei bekannter Depression/Manie/ Angststörung. Während z. B. einer telemedizinischen Beratung könnten Mimik, Pupillenweite und Stimmlage des Patienten auf Kongruenz zu den inhaltlichen Gesprächsangaben untersucht werden. Auch könnten Daten zu Mobilität, Herzfrequenz und Schlafverhalten hinzugezogen werden. Eine psychiatrische Krise könnte so möglicherweise bereits vor ihrem Entstehen abgefangen werden.Auf dem Gebiet der Neurologie KI-basierte individuelle Dosissteuerung von Parkinsonmedikamenten anhand von Messungen zu Mobilität, Mimik, ggf. Schweißsekretion. Vermeidung von Über- und Unterdosierung der Parkinsonmedikamente, welche aufgrund ihrer geringen therapeutischen Breite zu häufigen Komplikationen führen. Wir haben dazu bereits den „Neurosoccer“ entwickelt (Abb. 1), ein Tischkicker, der mit Sensorik ausgerüstet ist und entsprechende Parameter während des Spiels durch im Tisch verbaute Sensorik sammelt: Ballbeschleunigung, Tremor, Zielgenauigkeit von Schüssen, Schuss-geschwindigkeit und vieles mehr.Auf dem Gebiet der Geriatrie Ermittlung von Frailty und Sturzrisiko zur Steuerung der Behandlungsintensität (Arztkontakte, Rehamaßnahmen, Medikamentendosis etc.) durch KI-geleitete Analyse von Mobilität, Kraftgradmessung (z. B. Dynamometer), Konzentration (z. B. einfache Reaktionstests). Stürze könnten optimalerweise verhindert statt behandelt zu werden. Früherkennung eines Delirs, das mit einer deutlich erhöhten Mortalität einhergeht. Auch hier gibt es spezifische Veränderungen von Herzfrequenz, Blutdruck, Vigilanz und Konzentration, die KI-basiert aufgearbeitet werden könnten.Vermeidung von Dekubitus bei bettlägerigen Patienten durch ‚intelligente‘ Wechseldruckmatratzen, welche die Druckbelastung auf bestimmte Körperstellen des Patienten messen und ihren Härtegrad entsprechend anpassen, so dass ein starres Umlagerungsschema für die Pflege entfällt. Die herkömmlichen Wechseldruckmatratzen machen dies ungerichtet, so dass die Patienten oft seekrank im Bett schweben, was die Delirrate erhöht und die Akzeptanz beim Patienten verringert.Auf dem Gebiet der Notfallmedizin Priorisierung der Behandlungskapazitäten in einer Notaufnahme anhand KI-basierter Algorithmen. Bislang wird im Rahmen der sogenannten Patiententriage eine Vielzahl an Daten (HF, RR, SpO2, BZ, Temperatur, Schmerzintensität, Leitsymptom etc.) durch geschultes Personal erfasst. Dann werden anhand vorgegebener Symptommuster manuell Dringlichkeitsstufen für die Behandlungsreihenfolge ausgewählt (z. B. Manchester Triage System). Dies ist aber nur eine grobe Einschätzung, die durch KI-Algorithmen sicher verbessert werden kann, zumal die sogenannten Human factors (Zeitdruck, fehlerhafte Fixierung, persönliche Aversion etc.) als Fehlerquelle entfallen würden. Auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe KI-gesteuerte Auswertung von Blutausstrichen zur Malariadiagnostik bzw. von Sputumproben in der Tbc-Diagnostik in ressourcenschwachen Regionen ohne geschultes Fachpersonal.Wir hoffen, dass wir Sie mit unseren Exkursionen in eine nahe und mögliche Zukunft ebenso begeistern konnten. Wir sind Praktiker mit dem Willen zur Umsetzung. Unser Motto ist: Die Zukunft gestalten heißt, sie ausprobieren. Wenn Sie ein Teil davon sein möchten, dann suchen Sie gerne den Kontakt mit uns.Mit unserem HealthCare MakerMobil (www.healthcaremakermobil.com) fahren wir digital und virtuell durch ganz Europa und gestalten mit Interessierten und Willigen in Diskussionen und Workshops die Zukunft gemeinsam und neu (Abb. 2).Dass die künstliche Intelligenz in allen Bereichen des Lebens Einsatzgebiete finden wird, ähnlich den am Anfang besprochenen Technologien, möchte ich an einem weiteren eindrücklichen Beispiel vorstellen: Rembrandts Nachtwache (fertiggestellt 1642) wurde von ihrem Originalplatz Kloveniersdoelen 1715 entfernt und in das Paleis op de Dam auf dem Amsterdamer Dam gebracht. Das Gemälde war zu groß, als dass es bei dem Umzug durch die Tür gepasst hätte und wurde daher an den Rändern beschnitten. Die entfernten Stücke sind seither verschollen. Durch eine im Jahr 1653 in Öl auf Holz und in geringerer Größe gemalte Kopie von Gerrit Lundens ist jedoch bekannt, wie das Gemälde im Urzustand ausgesehen haben muss.Aus dieser Kopie in insgesamt also geringer Auflösung konnten die Restaurateure des Reichsmuseums zusammen mit einem Team an Datenwissenschaftlern die fehlenden Stücke restaurieren, als wären sie von Rembrandts Hand. Sie trainierten dafür mehrere künstliche Intelligenzen, wie der Meister gemalt hat: Welche Farben, welche Pinselstriche, welche Darstellungen von Licht und Schatten er verwendet hat. Dann speisten sie die Kopie ein, und die künstliche Intelligenz zeichnete basierend darauf das mögliche Original nach. Seit ihrer Restaurierung hängt die Nachtwache nun im Reichsmuseum, jedoch an den Rändern erweitert um eine hochauflösende KI-Version der Bild-inhalte, die im 18. Jahrhundert verloren gegangen sind (Abb. 3).Im sechsten und letzten Teil unserer Aufsatzsammlung zum Thema Zukunft der Medizin und künstliche Intelligenz werden wir uns mit einem Thema aus den Vorschlägen der Leserschaft beschäftigen. Wir bedanken uns bei den Einsendern und Ideengebern. Dabei standen wir vor der Herausforderung, ein Thema auszuwählen, das für eine möglichst große Leserschaft relevant ist, gleichzeitig aber auch eine komplexe Fragestellung abbildet, die von allgemeinem Interesse ist und eine Relevanz im klinischen Alltag für Ärzte und Patienten hat. Unser Denken bei der Auswahl war so: Wir haben es mit einer Leserschaft zu tun, die in unterschiedlichen Fachdisziplinen in der Patientenversorgung engagiert ist. Dabei spielt auch die medikamentöse Therapie eine zentrale Rolle. Darüber, welche Medikamente in Deutschland einsetzbar sind, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Vor zehn Jahren wurde dazu das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG (§35b SGB V i. V. m. §130b SGB V) samt Verfahrensordnung einer Zusatznutzenbewertung eingeführt. Durch dieses Verfahren wird der Zusatznutzen neuer Therapien sondiert. Wir wollten wissen, ob es einer künstlichen Intelligenz gelingt, das Ergebnis einer Nutzenbewertung eines Medikaments vorherzusagen − basierend auf den Entscheidungen, die über die letzten Jahre hinweg getroffen wurden und deren Begründungen allgemein zugänglich im Netz sind.Wir werden Ihnen zeigen, wie KI-Werkzeuge eingesetzt werden können, unstrukturierte medizinische Dokumente zu verarbeiten. Eine Kunst, die in Bälde auch im klinischen Alltag wichtig wird, z. B. beim Zusammenfassen umfangreicher Krankengeschichten. Kurzum: Wir werden uns in der nächsten Ausgabe daran versuchen, den „G-BA- Algorithmus“, der hinter den Entscheidungen zu den Zusatznutzenbewertungen steht, gemeinsam mit Ihnen und vor Ihren Augen zu knacken. Es wird wissenschaftlich, und es bleibt spannend. Schauen Sie beim nächsten Mal der künstlichen Intelligenz auf die Finger. Entgegen dem Ausspruch von Sartre ist es nicht nur die Jugend, die Heimweh nach der Zukunft hat. Bildcopyright: Kiyoshi Takahase Segundo/Alamy Stock Foto Autoren: Dr. med. Tobias Gantnertobias.gantner@healthcarefuturists.com Dr.-Ing. Christian Kauth christian.kauth@healthcarefuturists.com Lesen Sie weitere Beiträge direkt im e-Paper der Ausgabe connexiplus 2021-1 Weitere Beiträge aus dieser Serie Der G-BA Algorithmus, geknackt . Wir sind die Summe unserer Entscheidungen Teil 6von Christian Kauth und Tobias Gantner 2021 Technologie verändert die Welt: Medizin. Macht. Möglichkeiten. Teil 5von Christian Kauth und Tobias Gantner 2021 Technologie verändert die Welt: Medizin. Macht. Möglichkeiten. Teil 4von Christian Kauth und Tobias Gantner 2021 BIG DATA, MACHINE LEARNING und KI - Daten. Können. Heilen. Teil 3von Christian Kauth und Tobias Gantner 2020 Demokratisierung der Medizin - Macht Künstliche Intelligenz medizinische Expertise zum Allgemeingut? Teil 2von Christian Kauth und Tobias Gantner 2020 Die Natur der Künstlichen Intelligenz Teil 1von Christian Kauth und Tobias Gantner 2020