Alles ein großer Irrtum?

Schmerz als 5. Vitalzeichen von Winfried Meissner, Jena     Jahre lang wurde die – möglichst häufige – Messung der Schmerzintensität propagiert. Jetzt häufen sich kritische Stimmen – alles ein großer Irrtum? Die Messung der Schmerzintensität gilt als Grundlage jeder rationalen Schmerztherapie und wird in allen Leitlinien als eine der wichtigsten Prozesse in der Schmerztherapie empfohlen. International wurde dazu der Begriff pain as 5th vital sign geprägt, mit dem auf die Bedeutung dieses Parameters hingewiesen werden sollte.   Diese Annahme erscheint einerseits logisch (man kann nur etwas verbessern, was gemessen wird) und beruht andererseits auf einer bemerkenswert geringen Zahl von Studien. Die am häufigsten dazu zitierte Arbeit ist monozentrisch und nicht randomisiert; sie beschreibt eine Verringerung der Schmerzintensität nach Einführung von Schmerzmessung in einem Waliser Krankenhaus Anfang der 1990er Jahre [1].   Wie „vital“ ist also die Messung der Schmerzintensität? Es konnte mehrfach gezeigt werden, dass die Einführung von Schmerzmessung nicht automatisch eine Verbesserung der Gesamtqualität zur Folge hat. In Registerdaten unterschied sich die Ergebnisqualität kaum zwischen Patienten mit und ohne Routineschmerzmessung [2]. Die Ursachen hierfür sind vielfältig (z. B. fehlende Behandlungsalgorithmen, Therapienebenwirkungen, erfahrene Pflegekräfte können auch ohne Dokumentation Schmerzen erfassen und behandeln).   Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass eine unkritische Einführung einer Schmerzintensitätsmessung – gerade in Zusammenhang mit finanziellen Anreizen – möglicherweise sogar zu einer Patientengefährdung durch Übertherapie führen kann [3]. Kürzlich forderte eine Gruppe von Physicians for Responsible Opioid Prescribing ein Überdenken dieser Strategie, um eine Überversorgung mit Opioiden zu vermeiden: Pain is a symptom, not a vital sign [4]. In der chronischen Schmerztherapie wird die Debatte um die Bedeutung der Schmerzintensität bereits intensiver geführt: In einem topical review in PAIN und einem ähnlichen Beitrag im New England Journal of Medicine [5, 6] argumentieren Jane Ballantyne und Marc Sullivan, dass die eindimensionale Fokussierung auf Schmerzintensität bzw. -reduktion ein falsches Therapieziel darstellt und dazu führt, dass die falschen Patienten mit den falschen Medikamenten (vor allem Opioiden) behandelt werden. Während die Pain as 5th vital sign-Kampagne als PR-Maßnahme sinnvoll gewesen sein mochte, lenkte die daraus resultierende Einführung von Schmerzintensitätsmessungen den Fokus zu sehr auf die sensorische Seite des Problems und ließ eine Übertherapie unbeachtet. Die Autoren enden mit dem Statement „What matters ultimately is not whether the patient’s pain intensity has reduced, but whether the patient’s life has improved“.   In der Praxis der postoperativen Schmerztherapie könnte dies bedeuten, statt einer hochfrequenten Messung der Schmerzintensität mit dem Patienten nach einer Operation vor allem die funktionellen Konsequenzen von Schmerzen zu betrachten, z. B. durch die im QUIPS-Projektes [7, 8] validierten folgenden drei kurzen Fragen:   Hindert der Schmerz an der Mobilität? Hindert der Schmerz am Durchatmen/Husten? Sind Sie wegen Schmerzen aufgewacht?   Diese Diskussion gewinnt auch dadurch noch mehr Bedeutung, dass eine aktuelle Debatte um die Einführung erlösrelevanter schmerzassoziierter Qualitätsindikatoren in Krankenhäuser begonnen hat. Aber was ist denn „gute“ Schmerztherapie? Notwendig ist ein Paradigmenwechsel in der schmerzmedizinischen Qualitätsdiskussion: Weg von der eindimensionalen Reduktion von Schmerzintensität (und der glücklicherweise verlassenen Propagierung „schmerzfreier“ Institutionen), hin zu einem breiter angelegten Qualitätsziel, das verschiedene Aspekte der postoperativen Rehabilitation umfasst und auch potenzielle Nebenwirkungen berücksichtigt. Ein solches Ziel könnte beispielsweise wie folgt beschrieben werden: Möglichst frühzeitige und komplikationslose Mobilisierung, Ernährung und Entlassung eines schmerzarmen und zufriedenen Patienten.           Referenzen Gould TH, Crosby DL, Harmer M et al. Policy for controlling pain after surgery: effect of sequential changes in management. BMJ 1992; 305: 1187–93. Zaslansky R, Rothaug J, Chapman CR et al. PAIN OUT: The making of an international acute pain registry. Eur J Pain 2015; 19(4): 490–502. Lucas CE, Vlahos AL, Ledgerwood AM. Kindness kills: the negative impact of pain as the fifth vital sign. J Am Coll Surg 2007;205:101-7. Online unter: http://www.supportprop.org/advocacy [Letzter Zugriff 2.03.2017]. Sullivan MD, Ballantyne JC. Must we reduce pain intensity to treat chronic pain? Pain 2016; 157: 65–9. Ballantyne JC, Sullivan MD. Intensity of Chronic Pain – The Wrong Metric? N Engl J Med 2015; 373: 2098–9. Rothaug J, Weiss T, Meissner W. How simple can it get? Measuring pain with NRS items or binary items. Clin J Pain 2013; 29(3): 224–32. Online unter: www.quips-projekt.de [Letzter Zugriff 2.03.2017].   Bild Copyright: gusperus / photocase.de   Autor:           Apl. Prof. Dr. Winfried Meissner, Jena meissner@med.uni-jena.de           aus connexi  2-2017 Deutscher Schmerzkongress 2016 Kongressbericht        
Neueste Artikel

 

Kontaktieren Sie uns

 

 

 

Folgen Sie uns