Gute Gründe für Optimismus

  Die Zukunft der HIV-Versorgung − Eine Vision Hans Jäger, München   Bei keiner anderen schweren vergleichbaren Erkrankung hat es in den letzten 30 Jahren ähnlich große, auch direkt für die Patienten spürbare Verbesserungen der Therapiemöglichkeiten gegeben wie bei HIV/Aids. Im Gegensatz zur Impfstofferprobung (über 100 Studien, keine bisher sichtbaren, klinisch nutzbaren Erfolge) ist die Therapieforschung eine Erfolgsgeschichte.   Den Patientinnen und Patienten geht es heute besser als in früheren Jahren – bezogen auf HIV. Nicht wenige nehmen seit Jahren eine Tablette am Tag, die sie gut vertragen. Opportunistische Infektionen, Gesichtslipo­atrophien, Kaposi-Sarkome, die Lebensqualität einschränkende Durchfälle, Übelkeit, Erbrechen, Wasting und neurologische Ausfälle sind hierzulande verblasste Mythen einer bis vor wenigen Jahren noch als lebensbedrohlich geltenden Virusinfektion. Wie immer in der Medizin gibt es Ausnahmen: late Presenter, Nieren­insuffizienzen, manchmal sinkende Leistungsfähigkeit und so manchen Patienten, der es nicht schafft seine, wenngleich geringe, Tablettenmenge regelmäßig zu schlucken. Von HIV-Experten wird heute nicht mehr in erster Linie die genaue Kenntnis der Resistenzentwicklung und nicht die Verhinderung der HIV-Demenz erwartet. Diese Aufgaben gehören zur Routine.   Welcher Koagulationshemmer ist gut für meinen Patienten mit Vorhofflimmern? Wie kann ich dem bisexuellen verängstigten neuen Patienten am besten helfen, seine sozialen Ängste zu verkleinern? Was ist mit dem türkischen jungen Mann mit väterlichem deutschen Freund, für den seine Familie eine Braut bereithält (acht Stunden von Ankara mit dem Bus)?   Und immer wieder wie ein vielköpfiger Drache: die Diskriminierung im Medizinsystem selbst, oft „nur gut gemeint“, aber in der psychologischen Konsequenz die kleine Pflanze des gerade gestärkten Selbstbewusstseins zertretend.   Länger leben?   Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und Metformin-Einnahme haben in vielen Fällen eine längere Lebenserwartung als eine gesunde Vergleichsgruppe. Länger leben mit oder aufgrund einer Krankheit? Geht das? Die große dagnä-Studie 50/2010, die in drei Gruppen das Altern mit HIV untersucht hat, kommt nicht zu dem Schluss, dass Patienten mit HIV, wenn sie gut und intensiv betreut sind, schneller oder intensiver altern, schneller sterben. Die eventuelle Ausnahme: Herz-Kreislauf-Erkrankungen.   In Deutschland sind ca. 80 % der HIV-Infizierten Männer – eine Gruppe, die für gewöhnlich nicht gerade für vorsorgliches Arzt-Aufsuch-Verhalten bekannt ist. Die regelmäßigen Besuche könnten dazu führen, dass bedrohliche Chronifizierungen früher erkannt werden, lebensbedrohliche Diagnosen früher gestellt werden, Ängste und Depressionen qualifizierter bekämpft werden und das Gesundheitsbewusstsein an der „männlichen Rolle“ vorbei gefördert und gestärkt wird.   Meine These dazu lautet: Wir werden in den kommenden 20 Jahren sehen, dass HIV-Patienten oder zumindest eine nennenswerte Gruppe der männlichen HIV-Patienten länger leben wird als eine zum Vergleich geeignete Kontrollgruppe.   Die auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere Komorbiditäten – auch wegen der trotz erfolgreicher Therapie noch zu registrierenden Immunaktivierung – besonders scharf eingestellten Sensoren der Behandler tragen in gleicher Weise diesem Trend Rechnung. Häufige kardiologische Kontrollen, Aspirin, Statine, stete Ermahnung zum Nicht-Rauchen und der in positiver Hinsicht „aggressivere“ Umgang mit den sonst manchmal etwas nihilistisch angenommenen „Volkskrankheiten“ (z. B. Übergewicht, Bluthochdruck) sind neben den sicher konsequenter durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen sowie Motivierung zum Sport weitere Bausteine zu der Hypothese.   Long Acting – Think Big!   In derzeit laufenden Studien werden Substanzen erprobt, die möglicherweise einmal alle zwei oder drei Monate verabreicht werden können. Bisherige sehr frühe Ergebnisse deuten an, dass das geht. Was spricht aber dagegen, darüber nachzudenken, ob es nicht auch, wie bei Aclasta zur Osteoporosebehandlung – ja ich weiß, das ist was ganz anderes – mit einer Infusion pro Jahr gehen könnte?   Heilung   Aus der Onkologie, wo der Begriff Heilung/Remission oft als fünf- oder zehnjährige symptomfreie Abwesenheit von der ursprünglichen Grunderkrankung verstanden wird – die Medikamentenfreiheit ist dabei keine Grundbedingung – könnten wir lernen oder folgern, dass viele unserer Patienten, denen es mit oft einer Tablette am Tag gut geht, ja bereits „geheilt“ sind.   Das Verständnis von HIV-Heilung ist aber anders, differenzierter, feinziselierter. „Kein Virus mehr nachweisbar und keine Medikamente mehr erforderlich“ sind die Bestandteile des heiligen Grals Heilung. Und dieser Zustand, so müssen wir es ehrlich sehen, konnte bisher nur bei ganz wenigen Einzelpersonen erreicht werden. Mancher sehr lang, evtl. auch früh behandelte Patient könnte eventuell seine Medikamente weglassen. Die New-Era-Studie – jetzt im sechsten Jahr – untersucht, ob das geht. Wenn es klappt, wird das für eher wenige Patienten, wahrscheinlich aber nicht nur für die in der akuten Situation Behandelten ein Weg sein. Ethisch ist zu fragen, ob, wenn jemand mit einer Tablette pro Tag gut und subjektiv gesund leben kann, eine heilungsexperimentelle, möglicherweise nebenwirkungsreiche zusätzliche Therapie mit schwer einzuschätzenden Folgen für die Zukunft überhaupt ein tragfähiges Prinzip darstellt. Niemand würde an der Remission einer Brustkrebspatientin sechs Jahre nach der Erstbehandlung zweifeln, nur weil sie weiter eine Tablette einnehmen soll.   Dürfen wir optimistisch sein? Wenn wir die Erfahrungen aus der HIV-Therapieforschung in die Zukunft extrapolieren, werden wir vermutlich irgendwann, vielleicht ja schon in den nächsten Jahren, Heilung/Remission, zumindest für einige Patienten, erreichen.   Warum? Andere Hypothesen werden neue Blickwinkel schaffen. Mauern wir doch die Viren in den latent infizierten Zellen ein, so dass sie nicht mehr raus können. Lassen wir doch ein weniger doktrinäres Denken zu, das die heutigen Stolpersteine zur Heilung in einigen Jahren als Geschichte der Medizin ebenso einstufen wird, wie wir heute den früheren Streit um die Zweifach- und Dreifachtherapie ja auch unter neuen Gesichtspunkten sehen können.     Dieser Beitrag erschien im Original in der Jubiläumsbroschüre „1990-2015 − 25 Jahre dagnä“. Wir danken dem Autor und der dagnä für die Möglichkeit des Nachdrucks.         Autor:           Hans Jäger, München   info@jajaprax.de       Copyright: dreamstime-Robert Hyrons, Virus: dagnä e. V.   aus connexi  7-2015 24. bis 26. September 2015 25. dagnä-Workshop Konferenzbericht    
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