Immer mehr Tabletten

Polypill und Polypharmazie im Alter von Frieder Keller, Ulm   Vor allem die oralen Antikoagulanzien, die Protonenpumpeninhibitoren und die Statine zeigen eine rasante Verordnungszunahme in den letzten Jahren. Was sind die Gründe? Grund ist erstens die Multimorbidität; die Patienten werden älter und bekommen mehr Krankheiten. Grund ist aber auch die Ärztevielfalt; nicht ein Hausarzt, sondern der Internist, der Nephrologe und noch andere Fachdisziplinen behandeln ein und denselben Patienten. Jeder verschreibt.   Medikamente, die wir ansetzen, haben Nebenwirkungen, deshalb müssen gegen die Nebenwirkungen wieder andere Medikamente zum Einsatz kommen. Es entstehen Verschreibungskaskaden. Nicht zu unterschätzen ist die Selbstmedikation der Patienten. Viele Medikamente sind ja auf dem Markt frei zugänglich wie z. B. Ibuprofen. Die Folgen sind Polypharmazie und in vielen Fällen die Übertherapie.   Folgen der Multimedikation sind Zunahme des Interaktionspotenzials und Abnahme der Adhärenz. Was ist zu tun? Mehr Therapieüberwachung? Oder das Verpacken von mehreren Wirkstoffen in ein und dieselbe Pille, oder das gezielte Absetzen? Multimedikation an sich ist kein Risiko für die Patienten; im Gegenteil, man muss annehmen, dass Patienten, die viele Medikamente bekommen, deshalb nicht schlechter dastehen als Patienten mit weniger Medikamenten, weil diese vielen Medikamente Ihnen nützen [1]. Es kommt aber zur Übertherapie: Patienten auf Station im Krankenhaus erhalten eine strenge antihypertensive Therapie während sie die meiste Zeit im Bett liegen. Wenn sie dann zu Hause sind, ist der Blutdruck viel zu niedrig [2]. Viel spekuliert wird über das Interaktionspotenzial. Die Möglichkeit einer Interaktion ergibt sich aus dem Binominalkoeffizienten (Abbildung 2): Bei fünf Medikamenten gibt es zehn Möglichkeiten einer Interaktion, bei sechs Medikamenten sind das schon 15 Möglichkeiten und bei 20 Medikamenten bestehen 190 Möglichkeiten einer Interaktion.   Durchaus nicht alle Arzneimittelinteraktionen sind eine Katastrophe. Im Gegenteil, es gibt sehr nützliche Interaktionen, etwa 50 % aller Arzneimittelkombinationen dürften durchaus sinnvoll sein, beispielsweise die pharmakokinetische Boosterung der antiviralen Therapie mit Ritonavir oder die pharmakodynamische Verstärkung der Ciclosporin­wirkung intrazellulär durch Everolimus. Aber die Therapietreue nimmt mit der Zahl der Medikamente ab [3]. Zu bezweifeln ist, ob der kritische Kommentar von anderen Experten wie den Pharmazeuten wirklich hilft. Nur wer den Patienten betreut, kann abschätzen, was überflüssig ist.     Polypill- oder Fixdose-Kombinationen   Da Multimedikation zunehmend notwendig sein wird, ist die Entwicklung von Polypill- oder Fixdose-Kombinationen durchaus sinnvoll. Moderne Hochdrucktherapie geschieht mit Polypill-Kombinationspräparaten. Eine Polypill aus ACEi und Diuretikum oder Statin verbessert bei Hochdruckpatienten die Adhärenz und damit die Blutdruckeinstellung und die Cholesterinsenkung [4]. Auch die Diabeteseinstellung mit neuen oralen Anti­diabetika wird in Kombination besser.   Deprescribing   Andere Wege sind nicht nur die Deeskalation, sondern auch das gezielte Absetzen der Medikation. An erster Stelle sind hier die Protonenpumpeninhibitoren (PPIs) zu nennen, diese machen viele Nebenwirkungen. Seit jüngstem weiß man, dass sie auch die Nieren schädigen. Wenn die Number­ needed to treat 20 ist, um eine Blutung mit Protonenpumpeninhibitoren zu verhindern, dann ist die Number needed to harm 40, und es treten Nebenwirkungen auf. Diese Zahlen gelten aber nur für eine Therapiedauer von 30 Tagen [5] (Abbildung 3). Bei Entlassung von der Station oder nach vier Wochen sollten Protonenpumpeninhibitoren abgesetzt werden – außer bei gesicherter Langzeitindikation wie gastroösophagealem Reflux. Je länger Protonenpumpenblocker genommen werden, desto weniger profitiert der Patient und desto mehr Nebenwirkungen können auftreten.   Zwei Drittel der Dialysepatienten haben ein Statin. Wozu? In der 4D- und der SHARP-Studie senken Statine nicht die Sterblichkeit. Aber Statine machen mehr Koronarverkalkung durch Absenkung von Vitamin K2 [6].   Die KDIGO empfiehlt bei akuter Nierenschädigung an erster Stelle: Alle nephrotoxischen oder potenziell nephrotoxischen Medikamente sind abzusetzen. Potenziell nephrotoxisch sind aber praktisch alle Medikamente. Durch Absetzen der Medikamente bei Älteren kann man Diuretika einsparen. Im Einzelfall vor allem bei Dialysepatienten kann man auf bis zu 50 % der Medikamente verzichten. Wenn man Medikamente absetzt, sollte man aber nicht alle Medikamente gleichzeitig absetzen. Deprescribing muss geplant und protokolliert erfolgen.             Referenzen Díez-Manglano J, Giménez-López M, Garcés-Horna V et al.; PLUPAR Study Researchers. Excessive polypharmacy and survival in polypathological patients. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71(6): 733–9. Cappelleri C, Janoschka A, Berli R et al. Twenty-four-hour ambulatory blood pressure monitoring in very elderly patients: Comparison of in-hospital versus home follow-up results. Medicine (Baltimore) 2017; 96(34): e7692. Neri L, Martini A, Andreucci VE et al. Regimen complexity and prescription adherence in dialysis patients. Am J Nephrol 2011; 34(1): 71–6. Webster R, Salam A, de Silva HA et al.; TRIUMPH Study Group. Fixed low-dose triple combination antihypertensive medication vs usual care for blood pressure control in patients with mild to moderate hypertension in Sri Lanka: A randomized clinical trial. JAMA 2018; 320(6): 566–79. Leontiadis GI, Sharma VK, Howden CW. Systematic review and meta-analysis of 30 days proton pump inhibitor therapy in peptic ulcer bleeding. BMJ 2005; 330: 568. Chen Z, Qureshi AR, Parini P et al. Does statins promote vascular calcification in chronic kidney disease? Eur J Clin Invest 2017; 47(2): 137–48.       Bild Copyright: Science Photo Library / Tek Image     Autor:           Prof. i. R. Dr. med. Frieder Keller frieder.keller@uniklinik-ulm.de                 aus connexi  2-2019 NEPHROLOGIE, HYPERTENSIOLOGIE, DIALYSE, TRANSPLANATION DDfN 2018, DTG 2018, DHL 2018, Berliner Dialyse-Seminar 2018 Kongressberichte       Titelbild Copyright: Science Photo Library / L. Basset / Visual Unlimited, Fotolia® Janis Smits Gestaltung: Jens Vogelsang          
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