INTERAKTIONEN: Immunothrombosen und Autoimmunität
Anja Lamprecht
INTERAKTIONEN Immunothrombosen und Autoimmunität von Julia Weinmann-Menke und Daniel Kraus, Mainz Der menschliche Organismus enthält etliche Regelsysteme, die wichtige Körperfunktionen wie das Energie- und Wärmemanagement, die Immunabwehr, Reparatur- und Regenerationsprozesse, Fortpflanzung und weiteres mehr ermöglichen und die sich teils über Jahrzehnte mit erstaunlicher Stabilität aufrechterhalten. Viele dieser Systeme sind redundant angelegt, können also durch Störung an einzelner Stelle nicht oder nur schwer aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Darüber hinaus greifen manche pathophysiologischen Systeme ineinander und sind voneinander abhängig. Ein wichtiges, aber vielleicht nicht unmittelbar auf der Hand liegendes Beispiel hierfür ist die Interaktion des Immunsystems, also der Immunhomöostase und Immunabwehr, mit dem Gerinnungssystem, welches für Reparaturprozesse und indirekt natürlich auch für die Immunprozesse wichtig ist. Dass zwischen Immunabwehr und dem Gerinnungssystem eine Verknüpfung bestehen muss, kann man im klinischen Alltag erahnen, wenn etwa bei einem septischen Patienten eine unkontrollierte, disseminierte Gerinnung auftritt oder bei einer mit einer Autoimmunerkrankung hospitalisierten Patientin bereits während der Anlage eines zentralvenösen Katheters eine Thrombenbildung zu beobachten ist.Für die durch das Immunsystem angestoßene Blutgerinnung prägten Bernd Engelmann und Steffen Massberg von der Ludwig-Maximilians-Universität am Jahreswechsel 2012/2013 den Begriff „Immunothrombosen“ [1]. Im Folgenden wird deutlich werden, warum dies ein Thema ist, mit dem sich zu beschäftigen für sehr viele Ärztinnen und Ärzte notwendig geworden ist. Einen ersten Hinweis gibt die Zunahme der Publikationen, die unter dem Stichwort „immunothrombosis“ in der Pubmed-Datenbank der amerikanischen National Library of Medicine verzeichnet sind (Abbildung 1). Bis einschließlich 2019 waren dies ganze 54 Artikel. Allein im Jahr 2020 wurden jedoch mehr Publikationen zu dem Thema verzeichnet als in allen früheren Jahren zusammen, nämlich 65, und im Jahr 2021 waren es bis Anfang Dezember bereits 100. Warum ist das so? Bevor diese Frage beantwortet wird, sei kurz dargelegt, worum es sich bei Immunothrombosen eigentlich genau handelt und was sie mit Autoimmunität zu tun haben. Abbildung 1: Anzahl der in der Pubmed-Datenbank verzeichneten Publikationen zum Schlagwort „immunothrombosis“, aufgeschlüsselt nach Erscheinungsjahr. MikrothrombenDas Gerinnungssystem wurde lange Zeit als reiner Reparaturmechanismus verstanden. Blut zirkuliert mit einigem Druck durch die Gefäße, und wenn es einmal zu einer Gefäßverletzung kommt, ist es für den Körper wichtig, die daraus resultierende Blutung schnell zu stoppen und die Läsion zu reparieren. In den letzten Jahren ist jedoch deutlich geworden, dass das Gerinnungssystem auch eine wichtige Aufgabe bei der Immunabwehr hat [1]. Dringen Pathogene, in erster Linie Bakterien, in den Körper ein, dann werden Mikrothromben gebildet. Diese dienen dazu, die Bakterien in ihrer Motilität zu hindern und sie den Abwehrmechanismen der Immunantwort leichter zugänglich zu machen. Es werden innerhalb der Blutgefäße lokale Kompartimente gebildet, in denen Immunzellen und Zytokine akkumulieren und hohe Konzentrationen erreichen können. Die Pathogene werden durch die Immunothrombosen quasi „vorläufig festgenommen“ und den anderen Elementen des Immunsystems zur weiteren Bearbeitung dargereicht.Bildung von ImmunothrombosenImmunothrombosen können auf vielfältige Weise ausgelöst werden. Zum einen können Zellen des angeborenen Immunsystems, also etwa neutrophile Granulozyten und Monozyten, nach Erstkontakt mit einem Pathogen das Protein tissue factor exprimieren, das ein ganz wichtiger und potenter Stimulus für die Aktivierung der Gerinnungskaskade ist. Darüber hinaus können neutrophile Granulozyten regelrechte „Fallen“ auslegen, sogenannte neutrophil extracellular traps (NETs). Diese „Fallen“ bestehen unter anderem aus freigesetzter Leukozyten-DNA und Histon-Proteinen und führen auf vielfältige Weise zur weiteren Verstärkung der Immunantwort und zur Aktivierung der Gerinnungskaskade und Plättchenaggregation. Auch die Thrombozyten selbst können zur Bildung von Immunothrombosen beitragen. Bei Kontakt mit Pathogenen werden Thrombozyten aktiviert, so dass sie aggregieren. Sie binden zudem an Neutrophile und befördern so die Freisetzung von NETs und erleichtern die Erkennung der an sie gebundenen Pathogene durch Zellen des angeborenen und des adaptiven Immunsystems. Schließlich sind Thrombozyten in der Lage, selbst antimikrobiell wirksame Peptide zu sezernieren.AutoimmunerkrankungenImmunothrombosen sind ein wichtiges Element der Gefahrenabwehr durch den Körper. Die Bildung von Immunothrombosen muss jedoch streng reguliert sein, um nicht selbst zur Gefahr zu werden und Schaden anzurichten. Dies wird besonders deutlich bei diversen Autoimmunerkrankungen, etwa beim Anti-Phospholipid-Antikörpersyndrom (APS). Es handelt sich hierbei um ein Syndrom aus arteriellen und venösen Thrombosen sowie bei Frauen rezidivierenden Aborten in Verbindung mit dem Nachweis von Autoantikörpern [2]. Das APS tritt typischerweise bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen auf. Häufig besteht ein Zusammenhang mit dem systemischen Lupus erythematodes. Die Autoantikörper richten sich gegen integrale Bestandteile von Zellmembranen, die Phospholipide, die oftmals bestimmte Proteine an sich binden. Der Phospholipid-Protein-Komplex wird irrtümlich als (Auto-)Antigen erkannt. Es ist unklar, was zur Bildung solcher Anti-Phospholipid-Antikörper (aPL) führt, die mitunter auch bei nichtimmunologischen Krankheiten vorübergehend auftreten können, ohne dass es zur vollständigen Ausbildung des Syndroms kommt. Lange Zeit war auch völlig unklar, auf welche Weise aPL Thrombosen auslösen können. Zu dieser Frage hat es jedoch jüngst einige wichtige Erkenntnisse gegeben, die wir an der Universitätsmedizin Mainz in Kooperation mit Kollegen in Frankfurt am Main sowie La Jolla und Oklahoma City in den USA gewinnen konnten [3, 4].Es gelang nämlich erstmals, einen bestimmten Protein-Phospholipid-Komplex zu identifizieren, der einerseits als Autoantigen für aPL fungiert und andererseits sowohl die Gerinnungskaskade aktivieren als auch Autoimmunität induzieren kann. Bei diesem Protein-Phospholipid-Komplex handelt es sich um eine Verbindung aus dem endothelialen Protein-C-Rezeptor (EPCR) und einem Phospholipid mit dem schwierigen Namen Lysobiphosphatidsäure (lysobiphosphatidic acid; LBPA). Die physiologische Funktion des EPCR besteht darin, die Gerinnungskaskade zu aktivieren oder zu hemmen, je nach Gewebekontext und je nachdem, durch welchen Liganden dieser Rezeptor aktiviert wird. Außerdem vermag der EPCR die Produktion von Interferonen zu stimulieren, die im Zentrum der Pathogenese vieler Autoimmunerkrankungen stehen. Der EPCR stellt also ein interessantes Bindeglied dar zwischen dem Gerinnungssystem und dem Immunsystem. Bemerkenswert ist, dass Mäuse, die entweder durch genetische Modifikation oder durch pharmakologische Intervention keinen funktionierenden EPCR besitzen, vor der Ausbildung eines APS geschützt sind. Werden Autoantikörper aus dem Serum von Mäusen mit systemischem Lupus erythematodes (SLE) gewonnen und in andere Mäuse injiziert, so entwickeln nur diejenigen Mäuse Thrombosen, die einen funktionierenden EPCR aufweisen. Ohne EPCR können die Autoantikörper keine Thrombosen auslösen.Nicht nur für die Aktivierung der Gerinnungskaskade durch aPL ist der EPCR wichtig, sondern auch für das Erzeugen bzw. Aufrechterhalten von Autoimmunität. Mäuse, die regelmäßig aufgrund ihres genetischen Hintergrundes im Laufe ihres Lebens einen SLE (bzw. dem SLE sehr ähnelnde Modellkrankheit) entwickeln, zeigen eine reduzierte Krankheitsaktivität, wenn der EPCR-LBPA-Komplex experimentell pharmakologisch inhibiert wird.Der EPCR-LBPA-Komplex ist also ein wichtiges Autoantigen beim Anti-Phospholipid-Antikörpersyndrom. Er stellt neben den oben skizzierten Mechanismen einen weiteren Konvergenzpunkt von Immunsystem und Gerinnungskaskade dar, und vor allem ist er möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie Autoimmunität Immunothrombosen verursacht.Auch die bereits erwähnten NETs, die „Fallen“ der neutrophilen Granulozyten, scheinen eine wichtige Rolle einzunehmen in der Pathogenese von Autoimmunerkrankungen und der damit assoziierten Gerinnungsstörungen [5]. Beim APS stimulieren Anti-Phospholipid-Antikörper die Freisetzung von NETs, die bei diesem Syndrom zudem nur verzögert abgebaut werden. NETs werden vermehrt nachgewiesen etwa ebenfalls beim APS, beim systemischen Lupus erythematodes, bei rheumatoider Arthritis und bei den ANCA-assoziierten Vaskulitiden, also vor allem der Granulomatose mit Polyangiitis (GPA, ehemals Morbus Wegener) und der mikroskopischen Polyangiitis (MPA). Die ANCA-assoziierten Vaskulitiden tragen den Hinweis auf eine Verbindung zur angeborenen Immunität bereits im Namen. ANCA steht nämlich für anti-neutrophil cytoplasmic antibodies. Dies sind Antikörper, die sich gegen die Myeloperoxidase (MPO) oder die Proteinase 3 (PR3) richten. Sowohl MPO als auch PR3 sind in NETs enthalten; hier schließt sich der Kreis. Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der Entstehung von Immunothrombosen und des Zusammenhangs mitAutoimmunerkrankungen. Die mannigfaltige Interaktion von Immunität und Gerinnung wirft auch heute noch zahlreiche Fragen auf, die der wissenschaftlichen Beantwortung harren, und es wird sehr spannend und für die Weiterentwicklung der Medizin wichtig sein, zu verstehen, was diese Interaktion für die Pathogenese von Autoimmunerkrankungen bedeutet.Warum aber nun ist das Thema „Immunothrombosen und Autoimmunität“ aktuell für alle Ärzte so wichtig und nicht nur für diejenigen, die sich akademisch oder fachärztlich dafür interessieren? Wie bereits erwähnt, hat die Zahl der Fachartikel mit dem Schlagwort „immunothrombosis“ seit 2020 stark zugenommen – nahezu exponentiell. Der Grund für diesen ungewöhnlich starken Anstieg im vergangenen Jahr ist, man ahnt es, die Corona-Pandemie.COVID-19Eine Infektion mit SARS-CoV-2 ist nämlich auch deshalb so gefährlich, weil sie häufig zu einer völlig überschießenden Immunantwort führt, und auch Thrombosen prägen das klinische Bild und stellen einen Risikofaktor für Mortalität dar. COVID-19 geht mit einer Aktivierung von B-Lymphozyten einher, die derjenigen stark ähnelt, wie sie ganz charakteristisch für den systemischen Lupus erythematodes ist [6]. Je stärker die B-Lymphozyten aktiviert sind, desto schwerer ist mitunter der Krankheitsverlauf. Auch im Hinblick auf aPL ähneln sich COVID-19 und der SLE, denn auch bei COVID-19 treten häufig aPL auf, und zwar typischerweise bei den schweren Krankheitsverläufen, nicht bei den milden [6–8]. Neben aPL wurden viele weitere Autoantikörper bei Patienten mit COVID-19 nachgewiesen, beispielsweise antinukleäre Antikörper (ANA), ADAMTS13-Antikörper und SSA/Ro-Antikörper. Die Einordnung dieser Befunde ist jedoch oft schwierig, da meistens nicht festgestellt werden kann, ob diese Antikörper nicht schon vor der Infektion mit SARS-CoV-2 gebildet wurden.Die Corona-Pandemie zwingt alle, Ärzte wie auch medizinische Laien, dazu, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die lange Zeit im Beruf wie auch im Lebensalltag als gegeben gelten konnten. Im Falle der durch das Coronavirus millionenfach ausgelösten überschießenden Immunantwort und ihrer Begleitphänomene kann dies der Anstoß sein, zu einem besseren Verständnis von Erkrankungen zu gelangen, die vordergründig nichts mit SARS-CoV-2 zu tun haben. Der menschliche Organismus besteht aus etlichen Regelsystemen, und hier wird zunehmend deutlich, dass diese Regelsysteme nicht für sich existieren, sondern dass alles mit allem zusammenhängt. Hierin liegt eine Chance, unser Verständnis zu schärfen und damit neue Handlungsstrategien und Therapieangriffspunkte zu entwickeln. ReferenzenEngelmann B, Massberg S. Thrombosis as an intravascular effector of innate immunity. Nat Rev Immunol 2013; 13: 34–45.Molhoek JE, de Groot PG, Urbanus RT. The Lupus Anticoagulant Paradox. Semin Thromb Hemost 2018; 44: 445–52.Müller-Calleja N, Hollerbach A, Royce J et al. Lipid presentation by the protein C receptor links coagulation with autoimmunity. Science 2021; 371: eabc0956.Kaplan MJ. Linking clotting and autoimmunity. Science 2021; 371: 1100–1.Kapoor S, Opneja A, Nayak L. The role of neutrophils in thrombosis. Thromb Res 2018; 170: 87–96.Woodruff MC, Ramonell RP, Nguyen DC et al. Extrafollicular B cell responses correlate with neutralizing antibodies and morbidity in COVID-19. Nat Immunol 2020; 21: 1506–16.Xiao M, Zhang Y, Zhang S et al. Antiphospholipid antibodies in critically ill patients with COVID-19. Arthritis Rheumatol Hoboken NJ 2020; 72: 1998–2004.Zhang Y, Xiao M, Zhang S et al. Coagulopathy and antiphospholipid antibodies in patients with Covid-19. N Engl J Med 2020; 382: e38. 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